Dr. Sandra Bartsch-Beuerlein
– 26.08.2019Analyse der Stakeholder-Analyse

Ein guter Projektmanager wird dazu angehalten, sich mit den Projekt-Stakeholdern zu beschäftigen. Diese Kompetenz gilt als wichtig, schon seit es bei der GPM bzw. PM-ZERT Qualifizierung und Zertifizierung gibt, nach allen jeweils aktuell verfügbaren (GPM bzw. IPMA) Standards und ist seit jeher auch Gegenstand der Zertifizierung. Für diejenigen, die nicht die ganze GPM Geschichte im Kopf haben – eigentlich seit 1996. Die Abbildung oben ist aus der Publikation „Projektmanagement-Fachmann“ aus dem Jahr 1998.
Das hat sich auch mit dem neuen Standard, der ICB 4, nicht geändert. Allerdings wurde darüber wieder eine leidenschaftliche Diskussion entfacht, als die Trainer und Assessoren zur Qualitätssicherung der neu aufgelegten Lernkarten aufgefordert wurden.
Auf einer der Lernkarten stand:
Frage: Welche Faktoren sind für ein Stakeholderportfolio relevant?
Anwort:
- Betroffenheit / Konfliktpotential
- Erwartungen / Befürchtungen
- Einfluss / Macht
So weit so gut.
Nun kam ein leidenschaftlicher Protest von einem der Prüfleser auf:
Zitat: „Es gibt positiv und negativ „Betroffene“. Die positiven brauchen wir hier nicht, weil sie das Projekt nicht gefährden. Durch „Betroffenheit“ wird das 4 Feld Portfolio noch einmal nach unten geklappt und es ergeben sich 12 Felder für 3 Strategien?!? Absolut ineffektiv!“ Damit wurde die Lernkarte als „falsch“ abgetan.
Nun – in einem hatte der Prüfleser recht. Ein Portfolio mit zwölf Feldern wäre wirklich nicht sehr effektiv. Aber wer sagt, dass man alle Faktoren auf einmal in einem Portfolio für die Stakeholder-Analyse verwenden soll?
An dieser Stelle möchte ich an zwei sehr wichtige Projektmanager-Kompetenzen erinnern: Resourcefulnes und Results Orientation.
Der englische Begriff Resourcefulnes wurde in der deutschsprachigen ICB 4 als „Vielseitigkeit“ übersetzt. Aber eigentlich bedeutet er im Englischen Einfallsreichtum, Ideenreichtum, Erfindungsreichtum, Findigkeit. Der Google-Übersetzter listet in der Liste der übersetzten Begriffe sogar „Genialität“ auf, aber ganz so viel wollen wir von unseren Projektmanagern doch nicht immer verlangen! :-) Man könnte übrigens diese Kompetenzen auch unter „gesunder Menschenverstand“ subsumieren. Diese Kompetenz ist allerdings immer wichtig, bei allem, was das Projektleben so mit sich bringt.
Ein vernünftiger Projektmanager mit den oben genannten Kompetenzen sollte also nur so viele und nur solche Methoden verwenden, die direkt zu seinem Ergebnis beitragen.
Mit diesem Abriss der Kompetenzen blicken wir zurück zu der Stakeholder-Analyse und dem oben vorgestellten Beispiel.
Den Faktor „Macht /Einfluss“ sollte ich als Projektleiter immer einschätzen können, weil ein Stakeholder (m/w), der Macht und die Möglichkeit hat, Einfluss auf mein Projekt zu nehmen, für mich als PL auf jeden Fall interessant ist. Also kommt „Macht/Einfluss“ auf jeden Fall auf die X-Achse des Stakeholder-Portfolios und mit den Stakeholdern mit hoher Macht und hohem potentiellen Einfluss auf mein Projekt werde ich mich intensiver beschäftigen.
Wie schätze ich aber die Macht beziehungsweise den Einfluss ein? Einige Projektleiter geben hier eine Skala von 0 bis 10 an. So machen es oft auch die Soziologen: „Schätzen Sie Ihre Angst auf einer Skala von 0 bis 10 ein.“ (Und die Antwort ist dann vielleicht 12!?) Ja, diese Angst ist subjektiv und der Soziologe diskutiert dann darüber auch nicht weiter.
Wie wollen Sie aber die Macht zweier Stakeholder auf einer Skala von 0 bis 10 einschätzen? Und was genau ist dann zum Beispiel der Unterschied zwischen „Macht 6“ und „Macht 7“? Und welche Maßnahmen passen für Stakeholder mit „Macht 6“ und welche für „Macht 7“? Darüber könnte mach stundenlag – unproduktiv und daher nicht ergebnisorientiert – diskutieren. (Alles schon mal da gewesen!)
Außerdem macht es in der Regel wirklich keinen Sinn, hier ein Portfolio mit mehr als 20 Feldern zu erstellen! Auch wenn wir nur drei Strategien kennen, könnten wir die Maßnahmen für die Strategie „partizipativ“ in 20 Feldern fein unterscheiden:
1. Mit dem Stakeholder (m/w) jede Woche Golf spielen und ihn nach seiner Meinung fragen
2. Mit diesem Stakeholder regelmäßig Bier trinken und ihn abholen
3. Mit diesem Stakeholder in monatlichem Jour Fixe Entscheidungsvorlage diskutieren....
Na ja, ob diese Detaillierung so Sinn macht, möchte ich hier nicht weiter ausführen....
Wenn für Sie die Unterscheidung der Macht „hoch“ und „niedrig“ zu hart abgegrenzt ist, bezeichnen Sie die Felder des Portfolios mit „eher hoch“ und „eher niedrig“. Dann wird hoffentlich über die Ausprägung der Macht nicht weiter diskutiert.
Was soll aber auf die Y-Achse kommen? Nun, es kommt darauf an. Wenn ich das Portfolio nur im Kernteam verwende, könnte da auch „Konfliktpotential“ stehen, denn für die potentiellen Streithähne sollten wir uns auch passende Maßnahmen überlegen. Wenn ich allerdings dieses Portfolio der Geschäftsführung oder dem Lenkungsausschuss oder anderen Stakeholdern vorstellen will, könnte sich jemand vielleicht daran stören, dass er mit hohem „Konfliktpotential“ identifiziert wurde und es könnte zu nicht unbedingt sachlichen Diskussionen kommen. (Auch alles schon mal da gewesen!)
In IT-Projekten ist es z.B. so, dass es viele Stakeholder gibt, die durch eine neu einzuführende IT-Lösung direkt betroffen sind: Die neue Lösung ändert ihre Arbeitsprozesse, sie müssen neu lernen oder umlernen, vielleicht haben sie Angst vor Kündigung, weil sie durch die neue IT-Lösung ersetzt werden!? Es gibt nicht „positiv“ und „negativ“ Betroffene. Manche haben mit der im Projekt entwickelten Lösung künftig zu tun, manche eben nicht. Hier gilt in der Regel: Je mehr betroffen, desto mehr steigt auch das Konfliktpotential, wenn sie nicht „abgeholt“ werden und wenn ich es als Projektleiter nicht schaffe, ihnen ihre Ängste zu nehmen – z.B. durch passende Informations-Maßnahmen. Allerdings ist der Begriff „Betroffenheit“ politisch neutral und führt – wenn überhaupt – meist nur zur sachlichen Diskussion, wie z.B: Ist nun der Betriebsrat direkt betroffen, oder nicht? Und wir wollen auf keinen Fall die Betriebsräte als Streithähne bezeichnen, oder?
In Projekten in anderen Branchen könnte dieser Faktor ganz anders aussehen...
Wenn ich z.B. Kontaktlinsen für die Blauäugigen entwickle, wäre es vielleicht gut zu wissen, wer von den Stakeholdern blaue und wer dunkle Augen hat. Oder? Na gut, dieses Beispiel ist vielleicht etwas an den Haaren herbeigezogen; überlegen Sie sich also, was in Ihrem Projekt über Ihre Stakeholder auf einen Blick wichtig zu wissen wäre und passen Sie entsprechend die Y-Achse Ihres Stakeholder-Portfolios an.
Einstellung zum Projekt positiv/negativ? Entfernung von der Baustelle benachbart/weit entfernt? Nationalität einheimisch/fremd? Betriebszugehörigkeit neu/ alt? Usw.
Resümee: Im Projektleben gibt es selten eindeutig „falsche“ oder „richtige“ Methoden. Es gibt allerdings oft ergebnisorientiert oder nicht ergebnisorientiert eingesetzte Methoden.
Ein Projektleiter sollte mit seinem gesunden Menschenverstand und seinen Kompetenzen Resourcefulnes und Results Orientation möglichst diejenigen Methoden aus dem gelernten Methodenkasten einsetzten, die ihm mit etwas Anpassung und möglichst wenig Aufwand direkt auf seinem Weg zum Ergebnis weiterhelfen.
Auf Happy Projects – Ihre SBB
Sachliches Feedback zur Zertifizierung gerne auch an Feedback-ZERT@gpm-ipma.de
Kommentare
25.01.2024 – 19:13
Wolfram Ott
Liebe Sandra, Danke für Deinen Blogbeitrag.
Gerne ergänze ich Deine Gedanken In Anlehnung an die ICB4 und empfehle im 1.-ten Schritt Macht und Betroffenheit zu wählen. Alle weiteren Möglichkeiten stelle ich hinten an. Wie in Deinem Beispiel beschrieben können Konfliktpotential oder auch Einstellung zum Projekt in der Kommunikation für den Erfolg mit entscheidend sein. Unsere begrenzte Zeit im Projekt verhindert oft alles individuell und detailliert auszuleben.
Gerne begründe ich unter diesem Gesichtspunkt meine erwähnte 1.-te Ordnung mit der ICB4!
MACHT UND INTERESSEN (PERSPECTIVE 3.4) stellt den größten positiven Hebel im Projekt dar.
Da jedes Projekt am Ende ein Produkt liefert und dieses auch Nutzen stiften sollte ist es unumgänglich sich mit CHANGE und TRANSFORMATION (PRACTICE 5.13) frühzeitig zu beschäftigen. Es nützt nichts, wenn am Projektende niemand Interesse am Nutzen des Produktes hat. Also sind es die Betroffenen die im Laufe des Projektes bereits vorbereitet und unterstützt werden müssen. Damit ist diese wichtige Zielgruppe vor allem am Projekteende befähigt und bereit das Produkt mit ganzem Herzen und voller Kraft zu nutzen und den Erfolg damit nachhaltig zu sichern. Sollten wir dies nicht alle in der Kunden-/Nutzer-Orientierung vorleben?
25.01.2024 – 19:13
D.Labge
Vor allem mit einem "Augenzwinkern" geschrieben -- für die Blauäugigen.
Das hat mir gefallen. Herzlichst D.Lange