Denken in Ewigkeitslasten – Eine Vision für das Projektmanagement der Zukunft

Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts mehr zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende Panik oder seelentötende Starre zu verfallen.

Peter Sloterdijk in: Der Welt über die Straße helfen

Der Mensch ist die invasivste Spezies des Planeten. Die orphischen Mythen beschreiben die Trennung des Körpers (Soma) von der Seele (Psyche). Dies wurde von Francis Bacon (1561-1626) in die Welt hinaus definiert und zur wissenschaftlichen Methode erhoben. Er forderte, sich die Natur mit dem Verstand gefügig und zur Sklavin zu machen, sie auf ihren Irrwegen mit Hunden zu hetzen und auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt. Bacons Geisteswelt wurde von Réne Descartes (1596- 1650) weiterentwickelt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, um sich zum Meister und Besitzer der Natur zu machen.

Besitz und Meisterschaft über die Natur gefährdet das Überleben des Menschen. Eingriffe in die Ökosysteme und deren Zerstörung bzw. nachhaltige Veränderung und das damit Erschaffen neuer und künstlicher Ökosysteme, verändert oder zerstört die Lebensräume auch von Mikroorganismen, die für den Menschen potenzielle Krankheitserreger sind. Urbanisierung, Hochgeschwindigkeitsverkehr und globaler Warenaustausch sorgen für deren weltweite Verbreitung. Das Eindringen von Krankheitserregern durch die Verdrängung aus ihren Lebensräumen begann vor ca. 10.000 Jahren als der Mensch lernte, Wildpflanzen und Wildtiere zu domestizieren. Diese Ausbrüche waren lokal beschränkt. Das hat sich grundlegend geändert. Inzwischen sind ca. 96% der Säugetiermasse auf diesem Planeten Haus- und Herdentiere des Menschen. So erschuf er ein riesiges Reservoir für Bakterien und Viren, die aus ihren zerstörten Lebensräumen kommend, neue suchen und finden. Einige dieser Mikroorganismen sind humanpathogen. Will der Mensch seinen gegenwärtigen Lebensstil aufrechterhalten, muss er der Evolution dieser Krankheitserreger immer einen Schritt voraus sein.

Angesichts der aktuellen Pandemie erklärten Staatsführer einem Virus den Krieg oder nannten ihre Politik alternativlos. Zur alternativlosenKriegsführung nutzten sie mittelalterliche Methoden, ohne zu berücksichtigen, dass sich sowohl die Dichte der Menschen auf diesem Planeten als auch ihre Mobilität um erhebliche Größenordnungen unterscheidet als zu Zeiten der Könige und Fürsten. Dies erfordert ein anderes Krisen- und Projektmanagement und damit eine andere Strategie und Herangehensweise.[1]

Pandemien sind Herausforderungen für die Managementsysteme des Menschen. Kurzfristiges Organisieren und Lösen existentieller Fragen in Krisensituationen, sei es bei einer Pandemie, sei es hinsichtlich der Klimaänderung, des Ressourcenverbrauchs, um nur einige zu nennen, ist nicht zielführend. Denken und Handlung müssen sich an längeren Zeiträumen orientieren als nur an Wahlperioden von vier oder fünf Jahren. Das heißt nicht, das parlamentarische Demokratien z.B. durch eher autokratische orientierte Gesellschaftsformen abgelöst werden sollten, sondern dass sie sich diesen Herausforderungen mit innovativen Konzepten und Herangehensweisen stellen. Die Menschheit benötigt eine andere Denkweise für ihre Management- und Organisationssysteme und ein anderes Verständnis von Natur als das Gedankengebäude von Bacon und Descartes.

In der klassischen Form realisiert Projektmanagement und seine Führungskräfte - unabhängig von Herkunft und Geschlecht - Ideen und Konzeptionen, die meist nicht ihre eigenen sind. Die für eine Realisierung notwendigen Ressourcen werden durch Dritte zur Verfügung gestellt. Die methodische Umsetzung erfolgt durch die Projektleitungen und dem dafür zur Verfügung stehenden Methodenbaukästen. In diesem Verständnis des Projektmanagements werden Ergebnisse in ein geschlossenes strukturelles System geliefert. Positionen über langfristige Wirkungen und Einflüsse der Ergebnisse daraus werden nicht oder nur kurz- bis mittelfristig zweckgerichtet betrachtet. Der Mensch handelt aus dieser Position heraus im Format des Schubladendenkens, Out-of-the-Box. Der amerikanische Science-Fiction Autor Bruce Sterling beschrieb in seinem Buch Tomorrow Now: Rethinking the next 50 Years vor fast zwanzig Jahren, dieses Denken durch ein komplett neues Verständnis der Box zu ersetzen. Den Begriff Box durch Ökosystem Planet Erde ersetzt, macht die Problematik der Managementsysteme und den ihnen zugrundeliegenden Denkansätzen deutlich.

Im Sommersemester 2018 führte ich mit einem studentischen Team eine Umfrage unter deren Kommilitonen im internationalen Masterstudiengang Global Production Engineering an der TU Berlin zum Thema New Work durch. Fragen zur Erwartung an die Gestaltung der Arbeit und seiner Umgebungen hinsichtlich ihrer Karriereplanung standen im Fokus. Etwa 250 Studenten beteiligten sich an der Umfrage[2]. Etwa 90% der Befragten gaben an, dass sie auf dem Weg zum General Manager eine Position als Projektmanager zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr als entscheidenden Karrieresprung sehen. Zukünftige Führungskräfte und Entscheider verstehen Projekte und deren Management in einem strategischen Kontext, der zur Gestaltung von Zukunft beiträgt. 

Die aktuelle Pandemie kann beispielhaft als Szenario für notwendige Änderungen der Managementsysteme und des Projektmanagements genutzt werden. Will der Mensch der Evolution von Krankheitserregern immer einen Schritt voraus sein, muss er sein gesamtes Denken, Handeln und Verhalten seiner unmittelbaren Umwelt gegenüber grundlegend ändern. Das betrifft Denken und Handeln nicht nur der Politik, sondern gilt für alle Entscheidungsträger in Organisationen und Strukturen des Menschen und deren Auswirkungen auf den Planeten. Dieses Handeln beinhaltet Risiken, die mit der gängigen Methodik und Denkweise nicht ausreichend erfasst werden.

Seit einigen Jahren wird der Ansatz des agilen Projektmanagements verfolgt, entlehnt aus dem Agilen Manifest der Softwareentwicklung.[3] Dieser Ansatz verfolgt die Idee, Projektführung und die Prozesse und Interaktionen der Beteiligten so zu gestalten, um die zunehmende Komplexität innerhalb technologischer Entwicklungen in den Griff zu bekommen und die Projektergebnisse schneller verfügbar zu machen. Damit wird die Box nicht neu definiert und verstanden. Die Menschheit sitzt in einer Komplexitätsfalle, die von Alex de Waal, dem Leiter der World Peace Foundation, in seinem Aufsatz Die Schönheit der Viren [4] deutlich wird. Darin schreibt er, dass die invasivste Spezies des Planeten sich in einem fortdauernden Krieg befindet. Dieser rechtfertigt die fortwährende Entwicklung ultimativer Munitionen und geht außerordentliche Risiken ein. Er verweist auf die Gain-of-Function Forschung, wo Virologen versuchen, gefährlichere Stämme zu entwickeln, um der möglichen Evolution einen Schritt voraus zu sein. Daraus folgt, dass eine planetare Gesundheit und Lebenserhaltung der Spezies Mensch in einer postimperialen und keine Kriege mehr führenden Welt nur dann gewährleistet werden kann, wenn es dem sapiens gelingt, ein Leben in nachdenklicherer und schöpferischer Harmonie mit der Natur zu führen, wie von dem amerikanischen Epidemiologen Anthony Fauci gemeinsam mit seinem Kollegen David Morens 2020 formuliert.[5]

Die beschriebene Problematik findet auch Eingang in Ausbildungswege, reicht jedoch nicht weit genug und liefert den bestehenden und zukünftigen Entscheidungsträgern in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nicht die notwendigen Kenntnisse und Instrumente, um die daraus resultierende Komplexität zu verstehen und ihre Handlungen daran auszurichten. Eine Rückkehr zu früheren paradiesischen Zuständen als Komplexitätsreduzierung zu verstehen, in dem der Mensch angeblich im Einklang mit der Natur lebte, ist nicht zielführend. Seine pure Zahl hat sich innerhalb einer Generation verdoppelt auf nunmehr acht Milliarden. Diese verbrauchen Ressourcen: Sie benötigen Nahrung und ein Dach über dem Kopf.

Nachhaltigkeit startete als Begriff vielversprechend, wie Florian Pfeffer, ehem. Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, [6] typo3/#_ftn6darstellt. Seitdem ist einiges schiefgelaufen. Die Diskussion um Nachhaltigkeit dreht sich aus seiner Sicht immer nur um Verzicht, Reduktion und zurück zur Natur – wo auch immer dieses Paradies sein soll. Doch weniger vom Falschen zu tun ist weiterhin falsch. Es beseitigt nicht das Problem, macht es bestenfalls ein bisschen kleiner und es stellt den Status Quo nicht in Frage. Dies wirkt auf alle Methoden und Denksysteme, bis hin zur nachhaltigen Energieerzeugung und den Entwicklungen zum Schließen von Produktlebenszyklen und hat eine direkte Wirkung auf die Managementsystem des Menschen. Philippe Chiambretta, der französische Architekturvisionär, beschreibt, dass wir eine Vision und damit ein tieferes Verständnis für eine Natur in ständiger Entwicklung und Veränderung benötigen angesichts der Unsicherheit unseres Wissens[7]. Er sieht die Idee einer komplexen Realität darin, dass diese ein transdisziplinäres Wissen erfordert. Er plädiert für eine Ablösung der Beherrschbarkeitsideologie durch den Abbau ideologischer Blockaden des modernen Denkens hin zu einem Denken unter Stoffwechselaspekten. In Bezug auf die zukünftige Gestaltung und Entwicklung am Beispiel von Städten versteht er dies als einen urbanen Metabolismus. Die durch die humanen Eingriffe erzeugten planetarischen Interaktionen von Millionen von Variablen schleudern uns in eine Ära des Komplexen und Unsicheren.

Dies bedeutet nicht, bestehende und vielfach bewährte Managementsysteme in der Projektrealisierung ad acta zu legen. Notwendig ist deren Erweiterung hin zu einem anderen Verständnis der BoxPlanet Erde.

Auf der Suche nach neuen Ansätzen für Denkweisen in dieser Richtung, die für Lehrinhalte an Universitäten und Hochschulen für eine zukünftige Elitebildung geeignet sein könnten, stieß ich vor etwa einem Jahr auf den Begriff Costs of Eternity – oder auf Deutsch Ewigkeitslastentypo3/#_ftn8[8].typo3/#_ftn8 (Darunter sind Kosten zu verstehen, die durch die Stilllegung von Schachtanlagen der Kohlenförderung z.B. durch Wasserhaltung zur Vermeidung von Kontaminationen des Trinkwassers entstehen und für die kein Endpunkt angegeben werden kann, solange Menschen in diesen Regionen leben). Studenten damit in ihren Projekten konfrontiert, reagierten zunächst verblüfft, dann aufgeschlossen. Sie begannen, die Ergebnisse ihrer Projekte für nachhaltige Produktionsverfahren unter erweiterten Aspekten zu betrachten und erste Lösungsansätze zu entwickeln, die über ein kurzfristiges Beherrschungsdenken hinausgehen und deutlich machen, wo weitere Entwicklungsschritte notwendig sind. Projekte und auch das Projektmanagement sind meist auf Endpunkte ausgerichtet, die ein fixes Ergebnis liefern. Diese Denkansätze sind zu hinterfragen und das Projektmanagement muss in eine Richtung entwickelt werden, die jedes Ergebnis als einen Meilenstein versteht, von dem aus Entwicklungen zu planen sind. Projektmanagement unter diesen Aspekten betrachtet führt dazu, dass Führungskräfte sich mit einem offenen Geist zwischen dem, was sie wissen und dem was sie lernen können, bewegen.typo3/#_ftn9 [9]typo3/#_ftn9 Im Ergebnis heißt dies eine Verabschiedung der Betrachtung ausschließlich kurz- und mittelfristiger Ergebnisse und hin zu einem Verständnis der Ewigkeitslasten und hin zu Führungskräften, die es verstehen, in Unendlichkeitsdimensionen zu denken – als ein Infinite Minded Leader, wie es z.B. Simon Sinek, der US-Managementguru, bezeichnet.typo3/#_ftn10[10]typo3/#_ftn10

Daraus folgt, dass mit der Frage nach den Ewigkeitslasten hinsichtlich der Projektergebnisse, das Projektmanagement sich von seiner reinen Funktion der Umsetzungsmethodik löst. Menschen, die sich bislang ausschließlich mit der Realisierung der Planungen auseinandersetzen, werden zu Generalisten, die mehr betrachten als nur einzelne Teile. Sie werden wieder zu dem, was im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals als Universalgelehrte bezeichnet wurde. Dieses Bildungsideal umfasste sowohl die Natur- als auch die Geisteswissenschaften und die Kulturen als Dreiklang aus Kultur, Geist und Natur.

Das bedeutet ein Abschied von der Beherrschungsideologie, wie sie durch Bacon und Descartes beschrieben wurde und hin zum Gesamtverständnis der Box Planet Erde. Projektmanagement wird damit zur umfassenden Führungsdisziplin. Interdisziplinäre Teams aus internationalen Experten und den unterschiedlichsten Wissensdisziplinen müssen motiviert und zu innovativen Lösungen unter dem Aspekt der Ewigkeitslasten zielgerichtet koordiniert werden. Ein neues Bildungsideal beinhaltet aus dieser Betrachtung heraus Geist, Kultur, Natur, Kreativität, Soziabilität und natürlich analytisches und methodisches Denken.

Mit dieser Generation an jungen Menschen, die diese vielschichtigen Kompetenzen aufweisen und eine reife Persönlichkeit entwickeln, wäre eine Grundlage geschaffen, ein vollkommen neues Verständnis für die BoxPlanet Erde zu erreichen. Unsicherheit und Ungewissheit sind ständige Begleiter unseres Lebens und der Natur. Eine fundamentale Theorie der Physik zur Beschreibung unserer Welt, vom Nobelpreisträger Werner Heisenberg 1927 als Unschärferelation formuliert und hier stark vereinfacht wiedergeben, beschreibt dies aus naturwissenschaftlicher Sichtweise: Wenn ich weiß, wo sich ein Teilchen befindet, weiß ich nicht, was es tut. Und wenn ich weiß, was es tut, weiß ich nicht, wo es sich befindet.

Wir müssen verstehen, mit Nicht-Wissen umzugehen und lernen, unsere Beziehung zur BoxPlanet Erde neu denken und auf dieser Basis die Managementsysteme erweitern. Wer Visionen hat, sollte nicht zum Arzt gehen, wie es Altkanzler Helmut Schmidt einst sagte, sondern diese über seine Enkel und Urenkel hinaus zu denken.

 


[1] Glitscher, Wolfgang: Corona Politik: Blindflug ohne Pilotenlizenz, Berliner Zeitung, 23.02.2021

[2] https://elibrary.narr.digital/article/10.2357/PM-2020-0011

[3] http://agilemanifesto.orghttp>https://www.cell.com/cell/pdf/S0092-8674(20)31012-6.pdfhttps

[6] Pfeffer, Florian: ToDo – Die neue Rolle der Gestaltung in einer veränderten Welt, Schmidt, Mainz, 2014

[7] Artefakte und Biosphäre, Lettre International 133, 2021

[8]

[9] Schlag nach bei Sokrates

[10] The Infinite Minded Leader

Wolfgang Glitscher (1952, Berlin), Studium der Technischen Chemie und Biochemie, Promotion TU Berlin in Biophysikalischer Chemie. Acht Jahre F&E am Max-Volmer-Institut der TU Berlin. Danach zehn Jahre in Institutionen der Fraunhofer-Gesellschaft, dort u. a. von 2001 bis 2004 Programmdirektor der Telematikplattform für medizinische Forschungsverbünde, TMF. Seit 2005 Universitätsdozent für Project Management an der TU-Berlin am Produktionstechnischen Zentrum im internationalen Masterstudiengang Global Production Engineering (GPE). Seit 2007 in der GPM und Mitglied der FG PM an Hochschulen und weitere Aktivitäten.


Wolfgang Glitscher (1952, Berlin), Studium der Technischen Chemie und Biochemie, Promotion TU Berlin in Biophysikalischer Chemie. Acht Jahre F&E am Max-Volmer-Institut der TU Berlin. Danach zehn Jahre in Institutionen der Fraunhofer-Gesellschaft, dort u. a. von 2001 bis 2004 Programmdirektor der Telematikplattform für medizinische Forschungsverbünde, TMF. Seit 2005 Universitätsdozent für Project Management an der TU-Berlin am Produktionstechnischen Zentrum im internationalen Masterstudiengang Global Production Engineering (GPE). Seit 2007 in der GPM und Mitglied der FG PM an Hochschulen und weitere Aktivitäten.


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