Norman Heydenreich
– 04.02.2022Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles/adaptives Projektmanagement
Aufgaben der von einem Vertreter Deutschlands (DIN) und der USA (PMI) gemeinsam geleiteten Study Group AHG15 sind: die Analyse der Unterschiede zwischen "agilen" und "adaptiven" sowie anderen verwandten Konzepten und Praktiken; eine Untersuchung der globalen Marktbedürfnisse und des potenziellen Nutzens eines ISO-Standards; die Bewertung von Modellen, Methoden und Perspektiven für die beste Struktur und Form eines ISO-Dokuments; sowie die Erstellung eines White Papers, in dem der Kundennutzen des vorgeschlagenen Ergebnisses und die Gründe für das empfohlene Vorgehen erläutert werden.
Die Erfolgsquote der zunehmend komplexen öffentlichen Projekte und Programme ist trotz der Fortschritte bei der Weiterentwicklung der Kompetenzen und Managementsysteme viel zu gering. Sie ist bei agilen/adaptiven Managementansätzen signifikant höher als bei plangetriebenen Ansätzen [1]. Die Forschung hat jedoch in den existierenden agilen und adaptiven Methoden Schwachstellen und Lücken identifiziert, die durch zusätzliche Differenzierungen und Präzisierungen geschlossen werden könnten, darunter:
- bessere Berücksichtigung der Menschen in Projekten als Brücke zwischen dem rationalen wissenschaftlichen Ansatz und den eher humanistischen adaptiven/agilen Ansätzen,
- eine angemessene Unterstützung für ein integriertes Projektmanagement des gesamten Lebenszyklus,
- präzisere, klarere, kohärentere und besser integrierte Definitionen von Schlüsselbegriffen, die für alle Projekttypen entlang des adaptiven Projektspektrums relevant sind.
Die ISO-Norm ISO 21502 „Leitlinien für das Projektmanagement“ enthält Konzepte, die durch verallgemeinerte Prozess- und Lebenszyklusmodelle für agile und adaptive Ansätze Raum schaffen. Sie ist auf jede Organisation und Projektart anwendbar, unabhängig von Zweck, Komplexität, Größe, Kosten, Dauer, verwendetem Lebenszyklusmodell und Durchführungsansatz und somit auf „prädiktive, inkrementelle, iterative, adaptive oder hybride, einschließlich agiler Ansätze"[2]. Die Relevanz der ISO Normenfamilie für Anwender agiler/adaptiver Ansätze könnte jedoch durch zusätzliche Anleitungen erhöht werden, z.B.:
- Ausarbeitung von Praktiken, die sich bei Projekten mit adaptiven Lebenszyklen und Ansätzen unterscheiden können, wie z.B. Roadmaps, Backlogs, Kanban-Boards und verwandte Planungsansätze, und wie sich diese mit der Terminplanung, Kostenschätzung und anderen wichtigen Projektmanagement-Praktiken überschneiden.
- Untersuchung von Team-, Management- und Governance-Funktionen, die im Rahmen von agilen/adaptiven Ansätzen tendenziell anders organisiert sind.
- Nutzen- und Qualitätsmanagement sowie verwandte Praktiken in adaptiven Ansätzen.
- Untersuchung des Umgangs mit Risiken, Veränderungen und Ungewissheit in adaptiven Ansätzen.
- Kontext von Agilität im Projekt-, Programm- und Portfoliomanagement und zugehöriger Governance (PPPM&G) und in den Trägerorganisationen.
Für viele Organisationen stellt sich die Frage, wie die agilen/adaptiven Praktiken in die etablierten Verfahren des PPPM&G integriert werden können. Agile Ansätze stehen vor verschiedenen Herausforderungen, die mit der Größe der Organisationen, in denen sie angewandt werden, wachsen, z.B.: Die Koordination zwischen agilen und nicht-agilen Teams; die Einhaltung der verschiedenen organisatorischen Governance- und Audit-Anforderungen sowie der Interoperabilitäts- und Architektur-Vorgaben. Ein ISO-Dokument könnte Organisationen und agile Teams bei der Erreichung der gewünschten Agilität unterstützen - unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Beschaffungs- und Audit-Anforderungen, guter Koordination mit Programm- und Portfolio-Ebenen sowie der Zusammenarbeit mit anderen Projekten, Auftragnehmern, anderen Organisationseinheiten und externen Organisationen.
Aus der Sicht der ISO 21502 wird Agilität als ein Lieferansatz (Delivery Approach) und die Entscheidung für einen agilen/adaptiven Ansatz als nachrangige methodische Frage des WIE betrachtet. Viele agile Ansätze des adaptiven Spektrums, wie z.B. Agile, Lean und Design Thinking, beruhen jedoch auf menschenzentrierten Prinzipien und betonen andere grundlegende Aspekte wie Werte, Denkweisen, Kultur und Kompetenzen. Daraus ergeben sich folgende grundlegende Fragen: Ist agil/adaptiv nur ein Delivery Approach - oder ein grundlegender Wandel von Denkweise, Kultur, Managementsystemen und Kompetenzen, der der zunehmenden Komplexität und Unsicherheit von Projekten im 21. Jahrhundert entspricht? Was heißt das für die Grundkonzepte der internationalen PPPM&G-Normen? Kann deren Relevanz für agile Communities gesteigert werden, indem andere Aspekte einbezogen werden (wie z.B. die Werte und Prinzipien von Agile und SCRUM, der Fokus des EU-Standards PM² auf Mindset und Kultur, der Fokus der ICB4 auf Kompetenzen)?
Seit zwei Jahren wird die Welt durch die Pandemiekrise erschüttert. Gravierende Defizite im Krisenmanagement und bei der Umsetzung der Digitalen Transformation wurden in Deutschland, aber auch auf internationaler Ebene sichtbar. Internationale Herausforderungen, wie die Pandemie, die Klimakrise und die Digitale Transformation, brauchen internationale Managementstandards zur Förderung organisationsübergreifender und internationaler Zusammenarbeit in Projekten und Programmen. Mit zunehmender Komplexität und Ungewissheit steigt auch der Bedarf an einem internationalen Standard für agiles und adaptives Management von Projekten, Programmen und Portfolios. Durch eine Umfrage unter den Mitgliedsländern des ISO-Komitees „ISO/TC258 - Project, programme and portfolio management“ wurde 2020 „Agile“ als wichtigstes Thema ermittelt. 2021 wurde ein Vorschlag Deutschlands angenommen, zunächst durch eine internationale Study Group offene Fragen zu einem möglichen ISO-Standard für Agiles/adaptives Projektmanagement zu klären und Empfehlungen für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Die deutsche Spiegelarbeitsgruppe im DIN wird dabei durch die GPM Fachgruppe „Normen und Standards“ unterstützt, in der GPM Mitglieder dazu ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen können.

Für das Gelingen komplexer Projekte braucht es Gestaltungsspielraum für die Menschen im Projekt, Verantwortung, Vertrauen, gute Zusammenarbeit und ein anderes Mindset: Ausprobieren, Improvisieren, Lernen, Verantwortung übernehmen, mit dem Blick nicht nur auf die vereinbarten Leistungen, sondern auch darüber hinaus auf Zwecke, Nutzen, Chancen und Risiken des Projekts. Es braucht Gestalter und Führungskräfte, die wissen, welche PPPM-Praktiken am besten zum Kontext und zu den Anforderungen des Projekts passen und wie viel davon in einer konkreten Situation nötig ist. Agile Führung heißt, andere zu inspirieren, die agile Denkweise in agile Praxis umzusetzen und dadurch Werte für Kunden und für die Gesellschaft zu schaffen.
Darüber hinaus bedarf es auch organisationaler Projektmanagementkompetenz für das Management der Vielzahl vernetzter Projekte, Programme und Projektportfolios durch die Ziele, Strategien und Programme von Organisationen und Gesellschaften umgesetzt werden: Management- und Governance-Standards für Projekte, Programme und Portfolios; Ausbildungs- und Zertifizierungssysteme sowie kontinuierliche Verbesserungen von Managementsystemen, Kompetenzen und Organisationskulturen. Dazu braucht es Prinzipien, Verantwortungsstrukturen und eine Kultur, die Verantwortlichkeit, Performance, Qualität und Zusammenarbeit fördern. Wesentlich dabei ist die Klärung und Stärkung der Verantwortung der Projekt-Owner und -Sponsoren einerseits und selbstorganisierter Teams andererseits, um Verantwortungslücken zu schließen. Daher müssen beide Perspektiven in eine internationale Norm für agiles/adaptives PPP&G eingehen.
Um die globale Relevanz und Wirkung eines ISO-Standards sicherzustellen, sind auch unterschiedliche Bedarfe und Ausprägungen verschiedener Marktsegmente, Regionen und Kulturen hinsichtlich agiler und adaptiver Managementansätze in Projekten zu analysieren, sowie durch bestehende kulturelle, politische oder legislative Rahmenbedingungen gesetzten Grenzen.
Nur durch ein stärkeres gemeinsames Engagement der IPMA und ihrer nationalen Mitgliedsverbände wird deren kompetenzorientierte Sicht des Projektmanagements eine angemessene Berücksichtigung in der internationalen Normung finden. Nur durch eine engere Kooperation europäischer Länder können diese stärkeren Einfluss auf die Entwicklung der internationalen Projektmanagement-Standards nehmen und europäische Werte und Interessen einbringen. Und nur im Rahmen einer an den UN-Nachhaltigkeitszielen orientierten globalen Governance, in der auch die Sichten kleinerer Länder berücksichtigt werden, können die großen Herausforderungen der Menschheit – wie die Klimakrise und die Pandemie – als gemeinsame Projekte aller Staaten angegangen werden. Dazu kann ein gemeinsames internationales Verständnis der Werte, Prinzipien, Standards, Begriffe und Konzepte für das Management und die Governance von komplexen Projekten einen wesentlichen Beitrag leisten.
Die Ergebnisse der internationalen Study Group “Agile/adaptive“ sollen zur Plenarsitzung des ISO/TC258 im September 2022 vorgelegt werden. Die deutsche Spiegelarbeitsgruppe zur internationalen Study Group im DIN wird durch ein Teilprojekt „Agile PM-Standards“ der GPM Fachgruppe <link know_how fachgruppen themenfokussierende_fachgruppen normen_und_standards_im_pm.html>Normen und Standards im PM: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. (gpm-ipma.de) unterstützt, das sich weitgehend an den Aufgaben der internationalen Study Group orientiert. Zur Ermittlung der Marktanforderungen wird zurzeit eine Umfrage für unterschiedliche Stakeholdergruppen vorbereitet. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Nutzung der Ergebnisse für die anstehende Überarbeitung der nationalen Projektmanagement-Normenreihe DIN69900.
GPM Mitglieder, die ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen wollen, können sich dazu gerne an die Fachgruppenleitung wenden (normen-im-pm@gpm-ipma.de).
Literatur:
[1] Standish Group Chaos 2015 report on success of projects
[2] International Standards Organization: ISO 21502:2020 Guidance on project management. Genf, 2020
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