– 16.10.2019

Dezentralisierung von Entscheidungsfähigkeiten – eine wichtige Voraussetzung für Arbeiten im agilen Umfeld

Eine der Begründungen für das Aufsetzen agiler Vorgehensweisen in Projekten und Unternehmen ist die, dass man mit der zunehmenden Komplexität und Dynamik am besten klarkommt, wenn man relevante Entscheidungen dahin verlagert, wo sie direkt gebraucht werden: zum Mitarbeiter, der beispielsweise im selbstorganisierten Team entscheiden muss, welches Material er benutzt oder zum Product Owner (PO), der entscheidet, ob diese Änderung noch in die Userstory passt oder eine neue braucht oder zum ScrumMaster (SM), der entscheidet, ob eine Konsequenz aus dem Review beim nächsten Sprint berücksichtigt wird oder nicht.

Nun ist ja die Geschichte der Arbeit in keinster Weise eine Geschichte, der eingeübten Entscheidungsfähigkeit und -bereitschaft vor Ort; vielmehr haben wir alle gelernt, dass Entscheiden an „wichtige Leute“ – also Hierarchen – gekoppelt ist und dass man dafür eine Menge Informationen und Erfahrung braucht, um alles „richtig“ einschätzen und abwägen zu können und eben dann auch wirklich entscheiden zu dürfen. Wenn man so sozialisiert wurde und in Organisationskulturen arbeitet, in denen Menschen gewohnt sind, Entscheidungen zu vertagen, keine Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen, schon mal im Zuge der Entscheidungsfindung einen möglichen Schuldigen (kann auch eine ganze Abteilung sein) zu suchen, auf den man – wenn´s schief geht – zeigen kann, dann frage ich mich, wie viele „Agilisten“ zu der Ansicht kommen, man könne jetzt den Menschen einfach was zutrauen und ihnen den Handlungsspielraum so groß machen, dass selbständiges Entscheiden dazu gehört.

Ich habe in verschiedenen Projekten, erlebt, wie das mit Einführung von „agil“ – wenn es nicht extra adressiert wird – schief geht.

Insofern wäre es vielleicht hilfreich, einige Erkenntnisse zum Thema „Entscheiden“ zu kennen und sich bei der Einführung von agiler Arbeitsweise daran zu orientieren – was ja dann bedeutet, dass dies ein wichtiger Aspekt des Umbaus der Kultur wäre, wie ihn namhafte Treiber des Umbaus Richtung „agil“ in ihren Büchern und Aufsätzen als nötig erachten, um das agile Arbeiten wirklich erfolgreich zu machen:

1. Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Verhaltens-Biologie usw.  zeigen uns, dass alle Informationen, die wir jeden Tag sammeln (unbewusst) emotional bewertet und danach sortiert werden, ob Erfahrungen damit vorliegen oder nicht; auf diejenigen, die mit Erfahrungen verknüpft sind, greifen wir im Sinne von „Faust-Regeln“ zurück, auf diejenigen, die neu – ohne bekannten Kontext – sind, reagieren wir entweder abwartend und erprobend, oder ignorant (s.Gigerenzer, 2007). Gleichzeitig entlastet sich das Gehirn durch einen starken Filter – sonst würden wir sofort verrückt werden aufgrund von „overload“.
Das hat einerseits zur Folge, dass wir uns entlasten können, weil nur an „Fakten“ ausgerichtete Entscheidungen schlicht nicht möglich sind und dass wir aufhören können, unendlich nach Informationen/ Fakten zu suchen, weil wir die relevanten Informationen schon längst haben – der Rest ist Mut zum Risiko. Andererseits hat dies zur Folge, dass Projektmitarbeiter es aushalten müssen, Entscheidungen zu treffen, ohne alle verfügbaren Informationen zu kennen oder ohne alle Alternativen bewusst geprüft zu haben.
An dieser Stelle gibt es außerdem noch die bedeutsame Verknüpfung mit dem Persönlichkeits-Typ: die Bereitschaft Risiken einzugehen, die Fähigkeit, Chancen zu erkennen oder nicht, ist typ-abhängig.

2. Aus der Systemtheorie und den Naturwissenschaften (Biologie und Kybernetik) wissen wir, dass Systeme sich gerade deshalb erfolgreich behaupten (= flexibel und anpassungsfähig halten), weil sie hoch-sensible, dezentrale Steuerungsmechanismen nutzen (vgl. z.B. Kruse, 2009).

3. Aus vielen Gesprächen, Workshops usw. wissen wir, dass die üblichen aus der BWL stammenden Indikatoren zur Beschreibung des Zustands eines Projekts nicht genügend Informationen liefern, um wirklich handlungsfähig zu sein; dem tragen Restrospektiven und andere Reflexionsräume im agilen Projekt Rechnung, weil sie zusätzliche bzw. andere Indikatoren (wie z.B. „Was entzieht dem Team die Energie?“) benennen und bearbeitungsfähig machen.

4. Aus der Arbeits- und Organisations-Psychologie weiß man, dass Menschen dann in Gefahr stehen, falsch zu handeln, wenn sie einerseits nicht den Mut haben, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen oder zu handeln, ohne genau die Folgen zu kennen und dann für deren Eintreten auch grade zu stehen; andererseits wenn sie Angst vor Fehlern haben und der Ideologie verhaftet sind, immer sofort wissen zu müssen, was „das Richtige“ ist oder „alles im Griff“ haben zu müssen (ganz nebenbei: ein typisches Männer-„Trauma“).

Vor dem Hintergrund dieser, noch gar nicht vollständig aufgeführten Erkenntnisse zum Thema „Entscheiden“ lassen sich einige wichtige Vorgehensweisen für den Übergang in die „agile Welt“ ableiten:

  • Es würde sich lohnen, wenn man bei der Einübung der Selbstorganisation auch obige Erkenntnisse im cross-funktionalen Team bekannt macht und bei jedem Team-Mitglied die Selbst-Reflexion zu diesem Thema anregt (was für ein Entscheider-Typ bin ich – entweder über das Tool von Maja Storch, 2011 oder über den Enneagramm-Test, s. J.Daniels, 2002)
  • Es würde sich ebenso lohnen, in der Reflexion über die Erfahrungen mit dezentralem Entscheiden immer wieder Beispiele „gutes Entscheiden“ („es ist gut gegangen, obwohl ich Schiss hatte“) zu erarbeiten. Natürlich kann hier die für agiles Vorgehen typische Transparenz von Informationen/ Sachverhalten für alle Team-Mitglieder eine wichtige Hilfe sein.
  • Es braucht natürlich auch die Unterstützung vom SM und vom PO und für diese vom PMO oder von anderen Rollenträgern, die für das Gelingen des agilen Arbeitens mitverantwortlich sind (das sind manchmal agile-Coaches, manchmal auch Prozess-Verantwortliche oder Change-Agents).
  • Und es braucht Führungsleute oder Entscheider, die mit dazu beitragen, dass sich die Kultur so entwickelt,
    - dass Reflexionsräume auch wirklich geschaffen und genutzt werden.
    - dass dort ein wertschätzender Ton und eine fruchtbare Auswertung von Fehl-Entscheidungen oder Entscheidungen ohne genügend Folgenabschätzung möglich sind.
    - dass mehr an die entscheidenden Stellen im Unternehmen, in der Abteilung usw. delegiert wird und Führungskräfte ermuntert werden, abzugeben und Entscheidungen „ihrer Leute“ akzeptieren, auch wenn sie es anders gemacht hätten.
    - dass diese verschiedenen Ebenen konsequent angegangen und monitort werden unter Einbeziehung der Betroffenen.

Auf diese Art und Weise haben wir bereits mehrfach interveniert beim Übergang zum agilen Arbeiten, um tatsächlich die Personen, die mit den Kunden, mit den Zulieferern, mit sonstigen Stakeholdern zu tun haben und immer wieder entscheiden müssen, zu befähigen, immer besser, schneller und im Einklang mit den (Veränderungs-)Zielen zu entscheiden. Und damit einen erheblichen Sprung in Richtung mehr Flexibilität und Bewältigung der Komplexität, der Dynamik zu ermöglichen, Hindernisse zu beseitigen oder zu umgehen.

Es braucht also nicht nur das Training einer anderen Informationsverarbeitung inkl. Bewertung (andere Denk-Folien), sondern auch mehr Risikobewusstsein, mehr Mut und Gelassenheit im Umgang mit der Unsicherheit und dem Experimentieren sowie gegenseitiges Vertrauen – in diesem Fall vor allem in die eigene Intuition und die der anderen (ggf. Erfahreneren).

Und es braucht den Anstoß für die Veränderung der Kultur im oben angedeuteten Sinne.

Dr. Klaus Wagenhals ist seit 1998 selbständiger Begleiter von Change-Prozessen, Führungs- und Projekt-Optimierer in den Branchen IT, Automotive, LifeSciences, High-Tech, u.a. Seit 2007 ist er Netzmanager von metisleadership. Davor war er neun Jahre Geschäftsführer in einer mittelständischen Beratungsagentur; als gelernter Organisations-Psychologe und Industrie-Soziologe, arbeitete er seit Ende der 70er Jahre in verschiedenen Projekten in unterschiedlichen Rollen. Er mischt sich als Autor und Speaker in die Debatte um neue Ansätze für leadership und Projektmanagement ein und engagiert sich auch ehrenamtlich in diesem Bereich (z.B. seit 2013 als Mitglied der Regionalleitung der GPM Region Karlsruhe).


Dr. Klaus Wagenhals ist seit 1998 selbständiger Begleiter von Change-Prozessen, Führungs- und Projekt-Optimierer in den Branchen IT, Automotive, LifeSciences, High-Tech, u.a. Seit 2007 ist er Netzmanager von metisleadership. Davor war er neun Jahre Geschäftsführer in einer mittelständischen Beratungsagentur; als gelernter Organisations-Psychologe und Industrie-Soziologe, arbeitete er seit Ende der 70er Jahre in verschiedenen Projekten in unterschiedlichen Rollen. Er mischt sich als Autor und Speaker in die Debatte um neue Ansätze für leadership und Projektmanagement ein und engagiert sich auch ehrenamtlich in diesem Bereich (z.B. seit 2013 als Mitglied der Regionalleitung der GPM Region Karlsruhe).


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